Kurzgeschichte #022 | Ein namenloses Kreuz

Die trockene Erde unter dem namenlosen Kreuz, beherbergte keinen leblosen Körper.
Dort unten wartete nichts auf sie.

Die aufgetürmten Steine boten einzig den symbolischen Zweck, einen Ort zum Innehalten zu finden. Einen Platz, an dem sich ihre Trauer, ihr Zorn und ihre Verachtung ungesehen entladen konnten.
Sie hätte das hölzerne Mal überall aufstellen können.
Direkt hinter ihrem Anwesen, dort, wo sie es aller Tage aufsuchen könnte.

Aber sie tat es nicht. Sie wählte jenen Baum, einige Reitstunden südlich. Der Einzige in dieser kargen Ebene, der noch Blätter trug. Und sie brauchte die Entfernung. Sie brauchte die Stunden der Stille, damit der rasende Hass in ihrem Inneren Zeit fand, sich zu kanalisieren. Sie brauchte die Momente der Abgeschiedenheit und den Schmerz, den die regelmäßigen Reisen in ihr auslösten, damit sie niemals vergaß, was ihr genommen wurde.

Ebenso besonders wie der Baum, der sich mühsam gegen die harten Herbstwinde des trockenen Thoulems wehrte, war jener Mann, dem sie darunter gedachte.
Er hätte alles sein und werden können. Ein Kaiser. Ein Unheilsbringer, ein Retter, ein Gott…Nichts davon spielte für sie eine Rolle, wäre er doch nur an ihrer Seite geblieben. Über achthundert Jahre bewegtes Leben lagen hinter ihr. Eine Zeit voll der Emotionen, des Erfolgs und des Verlusts. Sie gab Freunde und Familie an den Werdegang des Lebens. Fand neue, und verlor sie wieder.
Doch nichts, keine Klinge und keine Niederlage, hatte sie jemals so tief ins Herz getroffen, wie die vier kleinen Worte, die Walder ihr mit gesenktem Haupte überbrachte. Noch nie hatte sie den treuen Verwalter so zerschmettert gesehen.
»Er ist tot, Herrin«, murmelte er. Sie spürte, dass er ihr mehr erzählen wollte, es aber nicht zustande brachte. Auch ohne Erklärungen hatte sie das Wichtigste verstanden. Sie wusste um die Macht ihres Geliebten, und dass nichts anderes als feiger Verrat und Hinterlist der Grund sein konnte, dass er nicht mehr unter ihnen weilte.

Es hatte lange gedauert, die Wahrheit zu akzeptieren. Doch jetzt wusste sie, was sie tun musste.
Sie öffnete die Hände und fokussierte einen letzten Rest ihrer Kraft. Ein Funke, der ihr geblieben war. Sie spürte, wie ihr Körper und ihre Jugend allmählich der Zeit verfielen. Ihre äußerliche Verfassung spielte jedoch keine Rolle. Es galt einzig und allein, ein Botschaft zu überbringen.

Und dann, wenn sie die Verantwortlichen gefunden hatte – jeden Einzelnen – würde sie keine Gnade kennen. Sie würde den Kontinent in Schutt und Asche legen. Eine Schneise der Verwüstung durch die Zivilisation schlagen. Sie würde die Tore zu Akashs finsterem Reich mit bloßen Händen aufreißen und seine giftigen Mächte in sich aufsaugen, und sie über alle jene bringen, die schuldig waren.

Hätte das Leben ihr den Humor nicht aus der Seele gebrannt, hätte sie aufgelacht. Schmückte sich doch ausgerechnet ihre selbstherrliche Schwester mit dem vermeintlichen Streben nach Gerechtigkeit. Was für eine Farce. Nie im Leben hätte sie sich etwas so Naivem verschrieben. Der fehlgeleiteten Annahme, es gäbe etwas, das dem Begriff „Gerechtigkeit“ nur annähernd ähnelte, konnte sie nur Spott entgegenbringen.

Sie war die Aspekta der Rache. Rache war real und greifbar. Und Rache war alles, was sie jetzt noch wollte.