Kurzgeschichte #020 | Fadenkreuz

Eins mit der Welt.
Das Licht im Licht.
Der Schatten im Schatten.

Der Mann betete die Mantras seines Führers Imanuel im Stillen herunter, während er durch das karge Ödland schlich. Im Hintergrund der Szenerie brannte noch immer der zerstörte Reaktor. Seit Tagen schrumpften die Flammen nicht, zehrten jeglichen Rest des Brennstoffs auf und entluden sich ungezügelt in die Nacht. Das permanente Prasseln des Regens störte sie nicht. Die Tropfen verpufften in der Hitze des Schauplatzes.

Braune Flechten und verwelktes Gras zerstieben unter den Stiefeln des Mannes, während er sich in Position brachte. Mit gezielten Griffen nahm er das schwere Scharfschützengewehr vom Rücken.  Ablegen, Schultern, Zielen. Seine Augen entdeckten in Sekunden das Ziel unten im Tal, auf das er es angelegt hatte. Ein Überbleibsel des Angriffs auf den Reaktor. Verstreut und verloren in der Steppe, kauerte der Phalanx-Offizier vor einem kleinen Feuer und wärmte sich die Hände. Diese Flamme hatte sichtlich stärker mit dem Regen zu kämpfen als der Reaktorbrand. Der Regenmantel seines Ziels konnte seine Identität nicht verschleiern. Deutlich erkannte er unter der Vergrößerung seines Zielfernrohrs die Helm-Insignie der Phalanx auf dessen Schulter. An seinem Gürtel trug er eine Pistole im Halfter, ansonsten schien er unbewaffnet. Ein weiches Ziel. Ein leichtes Ziel. Ein ruhmbringendes Ziel.
Die Abschussprämie für ein Offiziersziel, insbesondere aus der Reihe der Sondereinheiten war beträchtlich. Imanuel selbst würde ihn dafür segnen. Doch dafür tat der Schütze es nicht. Er drückte den Abzug aus Überzeugung, weil es für die richtige Sache war. Für Atheos.

Sein Atem flachte ab. Ohne eine Bewegung oder einen Laut verharrte er im hohen Gras. Legte den Finger um den Abzug. Eine letzte Justierung, das rotleuchtende Fadenkreuz seines Objektivs ruhte direkt auf Höhe des Herzens.

Keine Ehre den Todgeweihten.
Nur eine Kugel in den Körper.
Einatmen. Ausatmen. Der Finger krümmte sich.


Chief Victor Laun blickte von dem kleinen Feuer auf, als das kaum zu vernehmende Surren über ihn hinwegpfiff. Kurz reckte er den Kopf in den Regen, blickte emotionslos in die Tropfen und genoss das kühle Nass.

»Ziel eliminiert, Sir«, drang Ka’Els sonore Stimme aus dem Stecker in seinem Ohr.

»Gut gemacht. Ist er tot?« Victor war zufrieden und erhob sich gemächlich aus seiner wartenden Position.

»Garantiert. Er schien voll und ganz auf Sie konzentriert.«

Der Chief nickte zustimmend, antwortete aber nicht.

»Sir, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Dieser Plan war äußerst waghalsig. Nur eine Sekunde Verzögerung und der Schütze hätte euch ausschalten können. Hattet Ihr keine Angst?«

»Vor jemandem, auf den du dein Gewehr richtest?« Der Chief lachte leise auf. »Ich bitte dich.«