Yataro führte den Löffel, vollgepackt mit Cornflakes, automatisiert wie ein Roboter zum Mund, wo er einen krachenden und schmatzenden Prozess in Gang setzte. Wie gebannt starrte er auf den Fernseher, auf dem gerade ein akkurat frisierter Mann im schwarzem Zweiteiler die Nachrichten vorlas. Seine Stimme war so monoton, dass der Junge ihm normalerweise niemals zugehört hätte.
Doch heute saß er völlig still, schob sich sein Essen in den Mund, und lauschte dem Bericht, in dem gerade zu einem Reporter vor Ort umgeschaltet wurde. Eine leicht verwackelte Kamera folgte einem aufgeregten Mann, von dem man nur den Rücken sehen konnte. Zwischendurch blickte er sich immer wieder kurz um, wobei man durch die Linse deutlich erkennen konnte, dass er aufgeregt war. Alles in seiner Haltung schrie nach „Jahrhundert-Story“.
»Direkt vor uns, hier den Abhang hinab«, rief er gehetzt und deutete mit dem Finger über eine Absperrung hinweg, »haben wir Blick auf die freigelegte Stelle. Selbst auf diese Entfernung können wir noch erkennen, dass wir es mit einer Anormalität sondersgleichen zu tun haben!« Er winkte den Kameramann hektisch herbei und es wirkte, als würde er ihn beinahe über die Brüstung schieben. Die Aufnahmen fanden in einem bergigen Gebiet außerhalb von Tokio statt. Man erkannte die fantastische grüne Flora zwischen Abhängen und Felsvorsprüngen. Dazwischen kunstvolle, klassisch japanische, geschnitzte Zäune und Torbögen. Die Kamera verlor den Schotterweg aus dem Blickfeld und hielt nun über die Absperrung hinweg auf eine tieferliegende Felsformation zu. Am Vortag hatte es ein kleineres Erdbeben gegeben, was in dieser Gegend, und auf der japanischen Insel allgemein keine Seltenheit war.
Yataro hielt den Löffel mit seinem Essen wie paralysiert vor seinem Gesicht still und betrachtete weiter das Geschehen im Fernseher. Er war vierzehn Jahre alt und absolut begeistert von allem, was nicht der Normalität entsprach. Wann immer er konnte, klammerte er sich an Magazine und Bücher, die von außergewöhnlichen Beobachtungen und Mysterien berichteten. Es gab kein Exemplar in der Schulbibliothek, dass er nicht schon verschlungen hatte. In seiner Familie und seinem Freundeskreis, wurde er deshalb gerne aufgezogen und belächelt. Wenngleich für ihn alles völlig schlüssig war, und er täglich versuchte die Menschen um ihn herum zu überzeugen, konnte er keine Begeisterung in ihnen wecken. Yataros einziger Verbündeter war Masume, der alte Buchhändler aus dem kleinen Laden in der Vorstadt. Er war ein kauziger alter Mann, der so manches Relikt in seinen Regalen hütete. Wann immer er konnte, plauderte er darüber und versprühte eine jugendliche Energie.
»Mach diesen Schundsender aus, Yataro!« Die keifende zahnlose Stimme seines Großvaters, riss den Jungen aus seinem Staunen.
»Gleich, Ojiisan«, gab er beschwichtigend zurück. Er benutzte das förmliche Wort für ‚Opa‘. »Es ist gerade spannend!«
»Du musst in die Schule, Yataro! Schau gefälligst auf die Uhr!«
Der Junge wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als ihn etwas im TV-Bildschirm ablenkte. Die Kamera des aufgeregten Reporterteams hielt immer noch auf die Felsen zu, in denen man so etwas wie eine Lücke erkennen konnte. Die Journalisten argumentierten und mutmaßten immer noch gehetzt ihre Theorien und versuchten jemanden zu finden, der ihnen weitere Fragen beantworten könne. Scheinbar wurde eine Archäologin kontaktiert, die zeitnah eintreffen sollte.
»Yataro, wage es nicht mich zu ignorieren«, herrschte sein Großvater, doch er konnte sich nicht lösen. Etwas in dieser Lücke in den Felsen begann zu leuchten, und er war nicht der Einzige, der es erkannt hatte. Die Reporter gestikulierten und riefen durcheinander. Mehrere Teams von Journalisten standen an derselben Stelle und überschrien sich gegenseitig. Dann wurde das Leuchten greller und breitete sich aus, einer Explosion gleich. Aufgeregte Rufe erschallten und plötzlich war das Bildsignal verschwunden. Nur ein Störsignal blieb zurück, bis wieder ins Studio geschalten wurde, wo der monotone Anzugträger von Problemen mit der Übertragung berichtete.
»Ich sage doch: Schundsender! Dilettanten sind das, allesamt!« Sein Großvater wetterte weiter. Yataro wusste, dass er nichts für die Medien übrighatte. Genau genommen sagte er das nämlich über jeden Sender. Für ihn war das einzige Medium seine geliebte Tōkyō Shimbun, die örtliche Tageszeitung, deren Vorläufer noch älter waren als sein Großvater selbst.
Yataro seufzte, ließ den Löffel fallen und verschwand in den Flur. In Socken huschte er lautlos über die Tatami Matten, rief seinem Ojiisan eine Verabschiedung zu, schlüpfte in die blauen Sneaker und verschwand durch die Tür.
Er raste die Stufen in den Gemeinschaftshof hinab und sprang auf sein Fahrrad. Erst nach einigen Straßenecken fiel ihm auf, dass er seine Schultasche vergessen hatte. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Er musste unbedingt zu Masume und ihm von dem Bericht im Fernsehen erzählen!
Yataro war sich sicher – es wurde etwas Großes entdeckt!
Die Sonne stand noch sehr tief und warf ein langsam stärker werdendes Licht durch die belebten Straßen von Tokio. Obwohl es noch so früh war, herrschte bereits reger Verkehr. Der Junge hatte Glück und die Ampel für die nächste stark befahrene Straße war grün, sodass er nicht bremsen musste. Den Weg zu Masumes Laden könnte er im Schlaf fahren und Yataro wollte keine Sekunde verlieren.
Und dennoch bremste er mitten auf der Straße scharf ab, stieg vom Rad, und starrte ungläubig in den Himmel hinauf. Die Lichter der Autos schienen auf die nächtliche Restnässe der Straße und erzeugten ein diffuses Funkeln, dass Stück für Stück von der rötlichen Sonnenstrahlung des Morgens verdrängt wurde. Erstes Hupen erklang, von wütenden Autofahrern, die befürchteten Yataro würde noch länge dort stehen bleiben.
Der Junge hörte es gar nicht. Er blickte wie gebannt in den Himmel, auf jeden Millimeter, den er durch die hohen Wolkenkratzer erhaschen konnte. Ungläubig bestaunte er die majestätischen Flügelschläge der Kreaturen, die über ihn hinwegflogen. Die den grauen Koloss Kyoto plötzlich so klein erschienen ließen. Plötzlich erschallte ein donnerndes Röhren, ein Schrei aus animalischer Kehle, mit ungekannter Kraft, und auch die Autofahrer begriffen, dass etwas im Gange war.
Autotüren öffneten sich, Menschen stiegen aus und blickten ungläubig hinauf.
Nicht einer, und nicht zwei, auch nicht zehn, sondern Schwärme von Drachen tummelten sich über dem morgendlichen Himmel und verdunkelten mit ihrem anmutigen Himmelstanz die Sonne.
Yataro blieb der Mund offenstehen.
Er musste jetzt ganz dringend zu Masume.
ENDE
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