Ein Hinweis, bevor es losgeht: Diese Geschichte erzählt eine Randhandlung aus meinen Fantasy-Romanprojekt (Arbeitstitel: Jarascir). Das heißt, sie spielt genau auf dieser Welt, und einige Begrifflichkeiten die fallen, spielen eine große Rolle im Roman. Vielleicht ja auch manches, was hier passiert…wer weiß. Wenn sie dir gefällt, dann kann ich verkünden: da kommt noch mehr!
Das Tor zur Sonne.
Der Mund Meriads formte die Worte, ohne einen Laut dabei zu erzeugen. Zu ergreifend war der Moment, auf den er so lange gewartet hatte. Zu atemberaubend der Anblick, der sich ihm bot, dass kein Wort der menschengeschaffenen Welt ihm gerecht werden konnte.
Kilometerweit hatte er sich durch die Untergründe der einstigen Metropole gearbeitet. Kein Geröll, kein Schutthaufen, keine verlorene Seele konnte ihn daran hindern, sein Ziel zu erreichen.
Von hier an konnte es nicht mehr weit sein.
Seine behandschuhten Finger griffen in die Ledertasche an seiner Hüfte und holten eine Karte heraus. Murmelnd und mit suchendem Blick überflog er die Linien aus schwarzer Tinte und Rissen in der Oberfläche.
Der undefinierbare Haufen aus Steinen und Geröll, auf dem er gerade stand, musste der einstige Altar gewesen sein, und die ausladende Halle eine Art Gebetskammer, in der die Bewohner zusammen kamen. Obwohl die Zeit sich einen Großteil der Schönheit genommen hatten, blieb noch genug der alten Pracht zurück, um eine Vorahnung zu geben, wie es einst hier ausgesehen haben musste. In seinen Gedanken stellte sich der Mann Priester in weiten Gewändern voller Schmuck vor, tausende betende Seelen, die zu Füßen der Stiegen auf göttliche Erlösung warteten und ehrfürchtig hinauf starrten. Den Blick gerichtet auf genau das, was er auch er jetzt in diesem Moment sah, tausende Jahre später.
Das Tor zur Sonne, wiederholte er seine Gedanken und ließ seine Augen erneut über die Ornamente der grauen steinernen Oberfläche wandern. Wie ein gigantisches Kathedralenfenster mutete das kreisrunde Gebilde an. Genau konnte Meriad es nicht sagen, aber selbst auf diese Entfernung war er sich sicher, dass die Abstände zwischen den steinernen Stiegen perfekt berechnet und immergleich waren. Ein riesiges Wagenrad, in den Stein gemeißelt und verziert, als wäre es selbst der Tempel, und nicht die ganze Anlage selbst.
Mit der Zeit der Betrachtung kam auch die Ernüchterung. Er hatte es gefunden, aber was würde er nun damit anstellen. Die immensen Schätze der Hochkultur schienen verschüttet zu sein, das Gebilde zu groß, um es mitzunehmen und keine Zeugen in Aussicht, die seinen Fund bestätigen konnten.
Was nützte einem Entdecker die großartigste Entdeckung, wenn er nichts hatte, um sie beweisen zu können? Sollte er die tausenden Stufen und Schritte wieder zurückgehen, und jemanden holen, der ihm als Zeuge diente? Nein, am Ende würde noch jemand anders den Fund für sich beanspruchen.
Er entschloss sich dazu weiter zu suchen. Diese Halle musste etwas zu bieten haben, was er mitbringen konnte. Ein eindeutiger Beweis, der ihn als Finder auszeichnete, und der Adlige aller Welt dazu bringen würde, ihn zu finanzieren. Horden von Ausgräbern würde er hinab führen und alles zutage fördern, was die Zeit zurückgelassen hatte. In Gedanken formulierte er bereits die Worte, mit denen er sich Gehör bei den Staatsmännern und Kaufleuten verschaffen würde, während er die Karte wegpackte und anfing die steinernen Haufen um sich herum zu untersuchen.
Fast alles, was er sah und anfassen konnte, war dem Verfall preisgegeben worden. Die endlose Entropie griff mit starker Faust nach jedem Stück Materie und gab nichts davon mehr frei.
Einige Meter weiter fand er einen schweren steinernen Tisch vor. Mit Erstaunen wurde ihm bewusst, dass derjenige der mittig vor dem Tisch stand, direkten Blick auf das riesige Gebilde hatte. Als würde er direkt im Zentrum eines uralten Auges stehen. Im Moment war das er.
Mit seinem Lederhandschuh fegte Meriad den Staub und die vielen Steinkiesel von der schweren Platte und begutachtete, wie fein er geschliffen war. Nahezu glatt wie ein Stück Glas, mit Ausnahme der Intarsien die eingraviert wurden. Er musste sich nach vorne lehnen, um die Inschriften lesen zu können und war erstaunt, als er feststellte, dass es sich um einen alten Dialekt handelte, der zwar so nicht mehr gesprochen wurde, in den Büchern aber durchaus noch Erwähnung fand.
In der großen Akademie hatte er die Schrift einige Zeit studiert und konnte klare Verbindungen, sowohl zu den alten Völkern der Nordlande, ebenso wie zu den Marschenbewohner im Osten feststellen. Ein Indiz, dass der Sprachbaum ein und derselbe war, trotz all der Veränderungen, die die Zeit mit sich brachte.
Mit den Fingern fuhr er die Rillen der Buchstaben nach und murmelte deren Bedeutung, ohne den Sinn zu begreifen. Erst nach einigen Versuchen und angestrengter Übersetzungsarbeit wurde ihm klarer, was er hier vor sich hatte.
Meriad verstand jetzt, dass das Tor nachträglich eingebracht wurde, nicht wie zuvor angenommen. In den Überlieferungen, die er den Bibliotheken der Akademie entnommen hatte, wurde stets vermutet, dass das Tor eine Art göttliches Gebilde sei, um dessen Form die Tempelanlage errichtet wurde.
Dieser Schrift zufolge war es andersherum, und es wurde ihm auch klar, woher die Bezeichnung Tor kam, trotz der unüblichen Form und Optik des Ornaments.
Ganz klar erkannte Meriad das Wort Slesz, das heute noch im thoulischen fast dieselbe Bedeutung hatte: Schloss, oder Riegel, also eine Art Verschluss.
Doch was wurde verschlossen? Schätze, Edelsteine, Wissen?
Meriad musste es erfahren. Er musste wissen, wohin das Tor führen mochte.
Angespannt und aufgeregt ging er um den steinernen Tisch herum und fuhr die Kanten des Gebildes nach. Kein Schalter, kein Mechanismus, keine Anweisungen was zu tun war.
War er womöglich doch auf dem Holzweg? Ein Hirngespinst, dass sein Entdeckersinn ihm einredete, damit er die Motivation fand weiterzumachen?
Es war zu spät, um umzukehren. Mit den Füßen fegte er Steine und Geröll zur Seite, in der Hoffnung irgendeinen Hinweis zu finden.
Meriad sollte fündig werden. Stück für Stück legte er ein kreisrundes Symbol frei, leicht vertieft im Boden eingelassen, so breit wie drei Hände. In der Mitte prangte eine eingemeißelte Waage, das Zeichen der Göttin Iratha.
Der Entdecker begann vor Aufregung zu schwitzen. Beteten die alten Menschen dieses Ortes Iratha an? Das wäre eine ungeheuerliche Entdeckung, nahm man doch all die Jahre an, dass Jarad seit jeher der unangefochtene verehrte Gott war. Seine jüngere Schwester Iratha war verrufen, jedes Kind in der Hauptstadt kannte die Geschichten.
Auch wenn er als Forscher nicht besonders gläubig war, verstand er doch die Verstrickungen und wusste, dass man mit religiösen Andeutungen und Zweifeln vorsichtig sein musste. Sollte sich seine Vermutung bewahrheiten würde das einige Diskussionen und Fragen aufwerfen, im schlimmsten Fall sogar zu einer Glaubenskrise führen.
Meriad erkannte die runden Vertiefungen links und rechts des Symbols und ahnte was zu tun war. Mühsam ging er auf die Knie, atmete einen Moment durch und drückte sie dann jeweils mit Zeige- und Mittelfinger tief ein. Er war erstaunt, als er spürte wie einfach es ging, obwohl der Mechanismus tausende Jahre alt sein musste. Geschmeidig verschwanden die Druckknöpfe im Boden und es passierte…nichts.
Der Mann richtete sich auf und spähte in der Halle umher. Hatte es nichts bewirkt? Doch, ein Schaben und Rumpeln ertönte, nur einen Meter vor ihm. Irgendetwas versuchte sich aus dem Boden zu schieben, bekam aber nicht die Möglichkeit, weil Geröll den Auslass verdeckte. Schnell sprang Meriad herbei und räumte die Trümmerteile zur Seite. Vom Schutt befreit erhob sich ein steinerner Obelisk aus dem Boden und stoppte auf Höhe von Meriads Bauch. Oben auf erkannte er eine steinerne Schale mit einem Loch in der Mitte, ähnlich einem Ablauf.
Meriad begann schwer zu atmen. Ihm blühte was zu tun war. Diese Schalen waren ihm aus den Überlieferungen nicht fremd. Und noch eine Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz.
Die Sonne war das Symbol Jarads, des obersten Gottes. Die Waage, das Zeichen Irathas löste ein Ereignis aus, wie schon in der Geschichte des Glaubens. Und nun der Dritte im Bunde: Akash. Ein Blutopfer ward gefordert, seine liebste Form der Opfergabe.
Alle drei Gottheiten, so unterschiedlich sie waren, waren präsent und vertreten. Das gab es nirgendwo sonst in der bekannten Welt. Meriad lachte in sich hinein, als er sich vorstellte, wie sich die Gläubigen der Kathedralen gegenseitig mit Worten die Köpfe einschlugen und über die Bedeutung stritten.
Doch bevor es so weit war, musste er noch seine Aufgabe zu Ende bringen.
Er zog das Messer aus seinem Beingurt, welches er immer bei sich trug. Eine kurze aber scharfe Klinge, die mit einem Ruck über Meriads Unterarm fuhr. Trotz der brennenden Schmerzen und des Zusammenzuckens konnte er den Blick nicht von dem Rinnsal lösen, welches in die Schale tröpfelte und im Inneren versank.
Lange musste er nicht warten. Der dunkle Raum wurde von gespenstischem Licht erhellt. Das, was Meriad bis vor Kurzem noch für das Innere der Speichen des Sonnentors hielt, begann teuflisch rot zu leuchten. Immer klarer hoben sich die Formen des Tors ab. Symmetrische Kreise, Zacken und Ornamente, eingerahmt von den steinernen Bögen der Konstruktion.
Ehrfürchtig blickte der Entdecker auf das Licht, das zunehmend hell schien, sich aber langsam auf eine Helligkeit einpendelte. Er erkannte, dass die leuchtenden Flächen durchscheinender wurden, als wären sie aus dünnem Glas.
Plötzlich begann der Boden zu wackeln, dann die gesamte Halle. Ein erschütterndes Beben durchzog den Raum und breitete sich aus, während sich das gigantische Tor langsam zu drehen begann, begleitet von den schabenden Tönen, die das Reiben des Steins erzeugte.
Immer weiter versank das Tor im Boden, während Meriad Mühe hatte sich auf den Füßen zu halten. Er wurde herumgeworfen wie eine Puppe und versuchte den Brocken auszuweichen, die von der Decke herabfielen. Das Beben wurde intensiver und intensiver, was noch mehr Teile der Halle dazu brachte sich zu lösen.
Trotz der körperlichen Strapazen, denen er ausgesetzt war, konnte er den Blick nicht von dem gigantischen Objekt lösen, welches langsam im Boden versank.
Was der Mann nicht mehr sah, waren die schweren Felsbrocken, die auf ihn herabstürzten und ihn unter sich begruben.
Der Entdecker verschwand unter dem Schutt und dem Staub der uralten Halle, ungesehen vom Rest der Welt. Vergraben an einem Ort, den niemand hätte finden sollen.
Als das Beben verebbt war, blieb nur der Arm zurück, der sich aus den Geröllmassen herausstreckte. Das Messer mit der blutigen Klinge fiel aus der Hand und blieb klirrend liegen, beschienen vom roten Licht der geöffneten Kammer.
Meriad sollte niemals herausfinden welch folgenschweren Ereignisse er mit seiner Entdeckung in Gang gesetzt hatte.
ENDE
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