Über vierhundert Jahre.
Er zählte selbst nicht mit. Die alten Eichen des Waldes flüsterten ihm diese Zahlen zu, wenn er mit ihnen sprach. Sie erlebten die Zeit in einem anderen Spektrum als die Menschen. Je länger er unter ihnen war, je tiefer er sich selbst hier verwurzelte, desto mehr verstand er diese Art des Denkens. Sie erfreuten sich am Sein, an der Präsenz, der Blüte, und auch des Niedergangs. Ihnen war bewusst, wie der Kreislauf funktionierte, und im Gegensatz zu den Menschen, fürchteten sie das immerdrehende Rad der Zeit nicht.
Lam’un, Aspekt der Harmonie, hatte sich vor vielen hundert Jahren hier niedergelassen, im dichten Geflecht des Waldes. Lange hatte er versucht den Menschen beizubringen, was Harmonie bedeutet, wie man durch sie wachsen und reifen kann. Sie verstan den es nicht.
Die Interessen der Menschen waren Gier, Macht und Selbsterhalt durch alle Mittel. Wenngleich Lam’un seit seiner Wahl über Kräfte verfügte, die die der Menschen weit überstiegen, hatte er sich nie gewillt gefühlt, diese einzusetzen. Er hatte stets das Gefühl, das Gleichgewicht könnte durch sein Eingreifen in Gefahr gebracht werden. Hier konnte er Gutes tun.
Mit ruhigen Schritten trat er durch das verwurzelte Geflecht des Hains, strich sanft mit der Hand über Rinden und Blüten, ohne eine davon zu beschädigen. Die Pflanzen reagierten mit wohligem Duft, wanden sich unter Wohlgefühl in der Berührung und brachten die Sporen der Pilze, die überall in der Luft flogen, zum Leuchten.
Es war wieder einmal Zeit für die Kommunikation mit seinen Kindern. Abertausende Seelen, die er pflegte, ihnen zur Seite stand, und sie in ihrem Kreislauf aus Werden und Vergehen begleitete. Das Wurzelgeflecht aus Ranken und Knospen öffnete sich wie von selbst, als er nähertrat. Ein Hase hopste davon und Schmetterlinge umkreisten das Gebilde aus reiner Energie. Lam’un hatte das Gebilde, das Herz des Waldes, selbst geschaffen. Es stellte einen Knotenpunkt dar, der mit allen Lebensformen in seinem Gehölz fest verbunden war. Er trat auf die Holzplatte mit der aufgemalten ERK-Rune, einem alten Symbol längst vergangener Tage. Noch etwas, was er von den Eichen gelernt hatte. Es bedurfte nicht mehr als einem Gedanken um den Prozess in Gang zu setzen. Unter Knarren schloss sich der Kokon um ihn herum, füllte die Lücken mit Waben aus Blättern und purer Energie und vernetzte ihn mit seinen Schößlingen.
Lam’un wog den Kopf mit den langen schwarzen Haaren leicht im Kreis herum, während er die Botschaften der Natur um ihn herum empfing. Er spürte alles. Die Freuden, die Qualen, die Sehnsüchte, die Entwicklung selbst. Ein verletztes Tier, ein gebrochener Baum, eine Tanne, die unter donnernden Axtschlägen litt. Sein Herz verkrampfte sich und er biss die Zähne zusammen, als spürte er die Einschläge an ihrer statt. Eine glitzernde Träne bildete sich in seinen türkisfarbenen Augen und lief fluoreszierend die glatten Wangen hinab. Es schmerzte ihn, jedes Mal.
Die Menschen waren nicht alle so. Das wusste er, und sagte es sich wieder und wieder. Es gab Stämme im Süden und Osten des Waldes, die eins mit der Natur waren. Darunter friedliche Bewohner, die nur das nahmen, was sie brauchten. Oder die naturverbundenen Kriegervölker der Harungar. Sie lebten ihren Glauben an Geister und Waldkönige exzessiv und beinahe fanatisch, doch stellten immer die Natur der Dinge über das eigene Sein. Wenngleich Lam’un ihre gewalttätige Art missfiel, so schätzte er doch deren Bedürfnis nach Ausgleich. Es gab noch einige mehr, deren Lebensart irgendwo zwischen diesen Extremen lag.
Und dann waren da noch die Menschen von außerhalb des Waldes. Die Menschen, zu denen er selbst einmal gehört hatte, vor vielen hundert Jahren. Seine Gestalt begann zu schimmern, während sein Blick sich intensivierte, auf die westliche Grenze des Waldes fokussierte und begutachtete, was seit seiner letzten Vision geschehen war. Obgleich von körperlichem Verfall gefeit, wurde Lam’un schlecht als er das Ausmaß der Katastrophe erblickte. Wie durch die Augen eines Adlers überflog er das Gelände, welches einst von Leben und Frieden erfüllt war.
Es war gewichen. Schwere hölzerne Wagen karrten die einstigen Körper der Eichen, Eiben und Tannen über den hügeligen Untergrund. Ihre Seelen waren gefällt und in die Endlosigkeit verbannt worden. Weit weg von ihrem natürlichen Kreislauf. Lam’un betrachtete unter Tränen die geschändeten Strünke, die leblos und zerstört aus dem einst fruchtbaren Boden ragten. Männer und Frauen mit Äxten, mit Feuer und mit Gier im Herzen traten das Laub und die Blumen platt. Sie walzten über das Land wie eine Heerschar aus fleischgewordener Vernichtung.
Lam’un ballte die Hand zur Faust, so stark wie seit vierhundert Jahren nicht mehr. So stark, dass sich die harten krallenartigen Fingernägel in seine Handballen bohrten. Es trat kein Blut hervor. Alles, was sein Körper vergoss, waren Tränen der Verzweiflung, der Wut, des Hasses. Sie hatten es zu weit getrieben, die Harmonie des Waldes zu sehr mit Äxten und Stahl beharkt.
Vielleicht war es Zeit dem Kriegervolk der Harungar ein neues Ziel zu geben. Eine würdige Aufgabe für stolze Ahnen des Hains. Lam’un hatte den Moment gefürchtet, an dem er das Gewand des Hüters ablegen müsste. Wenn er sich zu erheben hatte, um die durch Fremdeinwirkung gestörte Harmonie wieder herzustellen.
Der Hüter spürte wie sich die Wurzeln des Kokons um ihn herum unter Ächzen lösten. Er fühlte deutlich, dass sie seinen Schmerz teilten, ihn verstanden. Mit einer fließenden Bewegung öffnete er die Hand nach unten gehalten, und griff nach dem borkigen Speer, der sich darin materialisierte. Das äußerlich tote Holz erstrahlte in seiner Berührung, bildete neues Leben, Blüten, Moos und scharfe Dornen.
Es gefiel ihm nicht. Es löste Schmerz und Trauer in ihm aus, diese Waffe erneut zu tragen. Doch es war Zeit, dass er, Lam’un, Aspekt der Harmonie, der einzig wahre König des Waldes, wieder seine Krone trug. Und der Wald würde ihm folgen.
Ende.
Du möchtest die Geschichte lieber hören, statt zu lesen?