DER STECKBRIEF
Die Fäuste in die Seiten gestemmt, stand Girgalor am Rand der Klippe und spähte angestrengt nachdenkend auf sein Ziel.
Die Aschefelder waren ein weitläufiges, karges Gebiet, dass außer staubtrockenem Boden und Felsen wenig zu bieten hatte. Nicht, dass er sein Ziel ohne diese Beschaffenheit des Geländes leicht übersehen hätte.
»Bist du sicher, dass du dich nicht verlesen hast?« Tamra, seine langjährige Waffenschwester trat neben ihn, und blickte ebenso skeptisch drein, wie er.
»Nein, steht hier so.« Girgalor, der Anführer der Söldnergruppe, kramte in seiner fleckigen Ledertasche umher, bis er den zerknüllten Steckbrief in den Händen hielt. Darauf waren mit dunkelgrauer Tinte und krakeliger Schrift einige Stichpunkte aufgeführt.
GESUCHT:
ZIELPERSON: Veriatan / gerüstet / kampferfahren
VERMEINTLICHER AUFENTHALTSORT: bewegt sich in östlicher Richtung von Badafell aus über die Aschenfelder.
AUFTRAG: Zielperson ist zu eliminieren, ansonsten keine Bezahlung.
BELOHNUNG: 50 Gulden, Plus 40 Gulden extra, wenn erledigt, bevor die Zielperson Niffhausen erreicht.
Girgalor reichte das Blatt weiter an Tamra.
»Sie hätten erwähnen können, dass die Zielperson einhundert Ziegen hoch ist, und eine Hellebarde schwingt, die fast so groß ist wie Mureks Selbstbewusstsein«, antwortete sie betont ruhig nach einigen Sekunden und beobachtete weiter, wie der Titan langsam einen Fuß vor den anderen schob. Die Zielperson, wenn es denn überhaupt eine Person war, schlurfte wie ein geistesabwesender Kriegsochse durch die Lande, und trampelte alles zu Staub, was nicht ausweichen konnte. Seine Rüstung war aus unbekanntem Metall gefertigt, und musste mehr wiegen als das ganze letzte Dorf, in dem sie unterkamen. Um seinen Kopf herum, prangte ein auffälliges goldenes Licht, dass seinen Weg, und alles sonst um ihn herum erleuchtete.
»Was is‘ mit mir?« Grummelte Murek bedrohlich von hinten. Der Grull zog seine zweischneidige Axt hinter sich her über den Boden und gesellte sich zu den anderen. Die Statur der Grull war kleiner als die der Menschen, dafür umso breiter und muskulöser. Ein dickes graues Horn prangte auf seiner Stirn und komplimentierte damit seine ausprägten Backenhauer. Girgalor fragte sich insgeheim, ob es auch weibliche Angehörige von seinem Volk gab, denn er hatte noch nie welche gesehen.
Tamra winkte Murek kommentarlos ab, und richtete sich stattdessen an Widgar, das vierte Mitglied der Truppe. Der schlaksige Hexer saß auf dem gemeinsamen Wagen und stützte sein Gesicht gelangweilt auf seiner Faust ab, während er, ebenso wie die anderen, dem Titan beim Wandern zusah.
»Hey Widgar, kannst du mal in deinen schlauen Büchern nachlesen, ob da was über diesen Veriatan steht?«
»Wenn’s sein muss. Kleinen Moment.« Er kramte in seinen unzähligen kleinen und größeren Büchern, die stets viel zu viel Platz auf dem Wagen einnahmen. Dieser Umstand hatte schon des Öfteren zu Streit in der Gruppe geführt, vor allem mit Murek, der ein ganzes Arsenal an todbringendem Stahl mit sich führte.
»Eine Schwachstelle wäre ganz gut«, sprach Girgalor mehr mit sich selbst.
Langsam beschlichen ihn Zweifel über diesen Auftrag. Sie waren eine bunt zusammengewürfelte Truppe mit einigen Macken, zu großem Selbstbewusstsein, und zu wenig medizinischer Ausrüstung. Gemeinsam hatten sie bereits dem ein oder anderen Fahndungsaufruf erfolgreich folgen können. Sie hatten Banditen getötet, Wölfe gejagt, Bärenzähne gesammelt und mehrere entlaufene Katzen gerettet. Ein fünfzig Meter hoher Stahlkoloss war eine andere Hausnummer.
»Ich hab da was«, rief Widgar nur halb anwesend. Er war bereits in den Text vertieft, und zitierte die wichtigsten Stellen.
»Hier stehts: Veriatan, oberster Titan des Gesandten der Sonne … Veteran des großen Kriegs … verstoßener Bruder des Erzengels Rin … zerstörte ganze Zivilisation … löschte ganze Landstriche mit einem Hieb seiner sonnengeschmiedeten Hellebarde aus … eingekerkert durch magische Flüche in der Zwischendimension Vlahila. Das wars.«
»Der sieht nicht eingekerkert aus«, grunzte Murek. »Hat wohl einer rausgelassen.«
»Das ist doch Irrsinn. Wo hast du diesen dämlichen Steckbrief überhaupt her?« Tamra hielt Girgalor das Blatt provokant unter die Nase.
»Aus Brellingen, der hing dort am Marktplatz. Hab ihn mitgenommen, damit uns keiner die fünfzig Gulden wegschnappt.«
»Da wäre ich aber traurig, wenn den jemand anders tötet«, schnaubte Tamra und verzog das Gesicht.
»Neunzig Gulden, wenn wir ihn gleich töten. Wegen dem Bonus«, triumphierte der kleingewachsene Grull-Krieger.
»Ich bin erstaunt, dass du rechnen kannst«, zog Widgar Murek auf, woraufhin dieser die Zähne fletschte.
»Wie bringen wir seinen Kopf als Beweis nach Brellingen? Der ist ja auch riesig.« Girgalor grummelte und strich sich dabei mit dem Finger über das Kinn.
»Dafür müssten wir ihn erstmal besiegen.« So langsam war es Tamra leid, dass sie stets die einzige Person mit Vernunft in der Gruppe war.
»Ich kann ihm die Zehen zermatschen.« Murek schwang die Axt und lachte dabei siegessicher.
»Mhm, klingt nicht überzeugend«, gab Girgalor zurück, während er die stahlbewehrten Stiefel des Titanen beobachtete, die gerade erst wieder eine ganze Felsformation zertreten hatten. »Widgar, hast du nicht irgendeinen Fluch oder Zauber gegen das Ding?«
»Selbst mein stärkster Fluch wird bei dem nicht mehr als ein bisschen Bauchgrummeln verursachen. Tut mir leid, bin noch in der Ausbildung.« Der dünne Zauberer hob entschuldigend die Schultern.
»Hilft Bauchgrummeln gegen einen Titanen?« Mureks Frage schien ernstgemeint zu sein, was wiederum zu einem Kopfschütteln bei seinen Begleitern führte.
»Steht da nichts von Schwachstellen?« Hakte Girgalor erneut nach. Anstatt einer Antwort von Widgar, rief Tamra hastig dazwischen.
»Seht, da kommen Reiter!« Ihr Finger zeigte auf eine Staubwolke, die sich aus Osten näherte und auf den Titanen zuhielt. »Das ist ein stattlicher Söldnertrupp.« Sie beobachteten die zwei Dutzend Pferde mit ihren gerüsteten Soldaten darauf. Kriegsgeschrei wurde laut und Hörner wurden geblasen.
»Ochsendreck, die wollen unsere Gulden!« Schrie Murek erbost.
Noch bevor die Reiter auf die Schussreichweite eines Bogens an den Riesen heran waren, hob sich unter ächzenden Bewegungen dessen Arm mit der Hellebarde. Sonnenlicht brach durch die Wolkendecke und drang tief in das gigantische stählerne Ungetüm ein, und schien es zum Glühen zu bringen.
Der Titan ließ die Waffe niedersausen und mähte damit unter tosender Lautstärke durch die Reihen der ankommenden Reiter. Staub wurde aufgewirbelt, Schreie erklangen, Felsen zerbarsten und Stahl explodierte unter der Wucht des Hiebs. Als sich die Wolke aus Steinen und Dreck gelegt hatte, konnten die vier Söldner von der Klippe aus, mit offenen Mündern dabei zusehen, wie der Titan einfach weiter voranschritt. Von der Truppe der Angreifer war nicht mehr geblieben als versengte Fetzen, die der Wind nun auf den Ebenen verteilte.
»Jetzt habe ich einen Plan«, rief Girgalor triumphierend. »Auf die Pferde!«
Die anderen sahen ihn fragend an. Sie hatten die soeben erlebte Szene noch nicht ganz verdaut. Selbst der taffe Murek verzog ungläubig das Gesicht, und ließ die muskelbepackten Arme schlaff herabhängen.
»Was hast du vor?«, fragte Tamra skeptisch.
»Wir kehren zurück nach Brellingen, hängen den Steckbrief an den Marktplatz und reiten dann so weit nach Westen, wie nur irgendwie möglich.«
Dieser Vorschlag fand schnell Anklang, und ausnahmsweise gab es keine Widerworte.
Von niemandem.
Danke, dass Du diese Geschichte gelesen hast! <3
Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mir ein Feedback gibst, wie sie Dir gefallen hat!