DER WANDERER
»Ich sag‘ es dir ein letztes Mal! Griffel weg von meiner Tochter!« Ein bulliger Mann schrie voller Wut durch das Gasthaus und schwenkte drohend mit seinem Zeigefinger. Sein Gegenüber, ein jüngerer, aber ebenso dreckiger Gast war ebenfalls aufgesprungen und hielt aufgebracht spuckend dagegen.
»Kein Mann mit nur einem halben Auge will deine Tochter! Die ist ja noch hässlicher als ihre buckelige Mutter!« Offensichtlich hatten beide nicht den ersten Becher Bier an diesem Abend gehabt.
»Schnauze, du wuchernder Sohn eines Jorblings!« Der Disput ging hin und her, während die Flüche lauter und kreativer wurden. Stühle fielen um, Gäste johlten Beifall und krümmten sich in Gelächter über die beiden Streithähne. Die alte Spelunke des Dorfes, „Die Rostige Irsa“, war wie jeden Abend der Mittelpunkt des Geschehens an einem Ort namens Brendheim, der sonst nicht viel zu bieten hatte.
Die Einwohner waren einfache, aber fleißige Menschen, die der Landwirtschaft und dem Handwerk nachgingen. Wenngleich sie von den Krisen der Welt hörten, waren sie doch mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Wie fast überall in dieser Gegend herrschten Krankheiten, Hunger und die aufkommende Kälte des späten Herbstes.
Draußen prasselte strömender Regen über die matschigen Pfade, über die behelfsmäßigen Dächer und auf den steinernen Platz vor dem Gasthaus. Die Rufe, der Gesang und die Streitgespräche der Gäste wurden von gelegentlichem Donnergrollen begleitet.
Inmitten des herrschenden Trubels öffnete sich die grobe hölzerne Tür, und eine Person kam herein. Aufgrund der allgemeinen Lautstärke hörte niemand das laute, unangenehme Quietschen der Scharniere. Lediglich ein Luftzug begleitete die Gestalt und zog Aufmerksamkeit auf den hochgewachsenen Mann, gekleidet in einen langen dunkelgrauen Mantel. Er sah nicht nach rechts und nicht nach links, ging nur zielstrebig auf die Theke zu. Der Fremde griff nach einem der wackeligen Hocker, schob den Mantel zur Seite, damit er sich nicht daraufsetzte und nahm Platz.
»Hier drin regnet’s nicht«, schnaubte die Gastwirtin, die namensgebende Irsa Fleischmann. Sie war gut gebaut und bereits in höherem Alter, was sich deutlich durch die tiefen Furchen in ihrem Gesicht zeigte. Ihr rostrotes Haar baumelte rhythmisch hin und her, während sie die Theke abwischte. Bei dem verkommenen Zustand des Interieurs hatte das allerdings nur noch die Zurschaustellung einer guten Absicht zum Zweck. Sauber würde hier nichts mehr werden.
Unter der Kapuze des Fremden blitzte ein Lächeln auf. Er verstand den Wink, er solle sein Gesicht zeigen, und zog deshalb den Stoff vom Kopf herab. Zum Vorschein kam ein Mann, der so gar nicht in dieses Etablissement passen wollte. Seine Züge waren klar definiert, männlich maskulin, aber doch jugendlich schön. Sein Haar war glatt und reichte ihm bis in den Mantel hinein, sodass man nur erahnen konnte, wie lang es wirklich war. Die alte Irsa verzog kurz das Gesicht vor Überraschung, schluckte die Verwunderung aber schnell herunter.
»Wollt ihr was trinken?« Setzte sie nach, woraufhin der Gast höflich nickte.
»Gerne, meine Reise war beschwerlich und das Wetter ein Graus.« Er legte die Hände auf die Theke und verschränkte die Finger ineinander. Selbst ein Blinder konnte die gierigen, erstaunten Blicke der Gastwirtin sehen, als sie die schmuckvollen Ringe an seinen Fingern ausmachte. Sie blinkten in silbernen und goldenen Facetten. Einer davon, ein besonders prunkvolles Exemplar, trug einen großen roten Stein in der Fassung. Irsa musste mit sich kämpfen, um sich von diesem Anblick wieder zu lösen.
»Wer seid ihr, Wanderer? Eine Art gläubiger Mann? Ein Priester?« Die Alte kannte solch wertvolle Juwelen nur aus Geschichten. Meist in Verbindungen mit heiligen Häusern und großen Herrschern. Der Fremde wirkte aber nicht wie ein König auf sie. Welcher König kehrte denn des Nachts allein in Gasthäuser ein? Also musste es ein Priester sein. War ihm bewusst, wie gefährlich es sein konnte, solche Schätze offen zu zeigen? Die Einwohner von Brendheim waren keine Banditen, aber bei derlei verlockenden Aussichten, konnte manch einer seine Moral vergessen. Die Stirn der Gastwirtin legte sich in Falten, während sie den schweren Holzkrug auf die Theke knallte. Das Bier schwappte über, durchtränkte die Planken und traf auch die Hände des Mannes. Sie sagte nichts dazu, und auch er ließ sich nichts anmerken.
»Kein Priester, nein. Aber auf eine gewisse Weise doch gläubig.« Er schmunzelte.
Irsa grummelte zustimmend, als verstünde sie, was er meinte, und nickte.
»Bringt Ihr uns wenigstens ein paar Geschichten mit? Das Leben hier kann eintönig sein.«
»Geschichten?« Erwiderte er feixend. »Bezahlt man damit hier sein Bier?«
Die Gastwirtin verzog das Gesicht und fixierte ihn grimmig.
»Nein, mit barer Münze! Drei Stück, um genau zu sein!« Sie wirkte verärgert, was für die Einwohner des Dorfes nicht verwunderlich war. Auch wenn die alte Frau in Brendheim beliebt war, hatte sie doch nicht den Ruf einer herzlichen Person. Inzwischen, auch verstärkt durch Irsas laute Antwort, hatte der Fremde weitere Aufmerksamkeit erregt. Immer wieder fielen die Blicke in ihre Richtung und Gemurmel wurde lauter.
Der Fremde hingegen lächelte entschuldigend und zeigte dabei seine sauberen Zähne. Vermutlich hatte niemand im Dorf jemals so helles Weiß an einem Menschen gesehen.
»Bitte verzeiht. Ich wollte euch nicht verärgern.« Er legte eine große silberne Münze auf den Tisch. Sie war fein gefertigt trug ein fremdartiges Symbol in der Mitte, das Irsa noch nie gesehen hatte. Ein Kreuz mit gleichlangen Seiten, und an zwei gegenüberliegenden Enden war ein Dreieck angebracht. Es konnte tatsächlich eine Art Gläubigen-Insignie sein.
»Ich hoffe das genügt für eure Umstände. Dürfte ich noch eine Schüssel Eintopf dazu bestellen?«, schob er hinterher. Die Wirtin griff schnell nach der fremdartigen Bezahlung. Das runde Stück war schwer und viel größer als die Münzen, die sie sonst von Fremden bekam. Auch wenn sie die Zeichen darauf nicht kannte, so war sie sich doch sicher, dass sie einen hohen Wert besaß. Obgleich sie sich über die Bezahlung freute, behielt sie ihre grimmige Miene bei und nickte kurz.
»Jaja, schon gut. Niemand sollte Hunger leiden.« Sie gab einem breitschultrigen Mann, der die Szene beobachtet hatte, ein Zeichen und er setzte sich in Bewegung.
Es dauerte nur wenige Momente, dann stand eine dampfende, grob gefertigte Schüssel auf dem Tresen. Mit Dank nahm der Wanderer den hölzernen Löffel in die schmuckbewehrte Hand und begann zu essen.
Nach wenigen Bissen flog die Tür des Gasthauses erneut auf. Dieses Mal war das Rumpeln laut genug, dass sich einige der Gäste fragend umblickten. In der Tür stand ein junger Mann mit krausen Haaren, die ihm, vom Regen durchnässt, am Schädel klebten. Auch seine Kleidung triefte förmlich und tränkte den Boden unter ihm. In den Händen hielt er einen schweren umwickelten Gegenstand, der fast so lange war, wie er selbst.
»Hey, wem gehört denn dieser schwere Brocken?« Rief er jauchzend. Die Menge johlte Antworten, laut und wirr, durcheinander, sodass man keine von ihnen wirklich verstehen konnte. Einzig die Frage, was es denn sein mochte, konnte man förmlich im Raum spüren.
»Pack‘ es aus, Gerret«, rief eine Frau deutlich hörbar über die anderen. Es schien sie nicht zu interessieren, wem es gehörte. Solange es herrenlos vor der Schenke stand, war es Dorfeigentum. Der junge Mann namens Gerret fieselte eifrig an den Schlaufen des Stoffes herum, bis sie sich lösten und zu Boden fielen. Zurück, in seinen dreckigen Händen, blieb ein unfassbar schönes Stück Metall. Ein Schwert aus silbrigem Stahl, geformt durch meisterhafte Schmiedekunst. Die Schneide war lang, aber doch dünn gefertigt. Der Griff war verziert mit Ornamenten, Edelsteinen und mit wertvollem gefärbten Leder umwickelt. Kein Vergleich zu den groben Schmiedearbeiten, die die Dorfbewohner von hier kannten.
Gerret stand ungläubig mit der Waffe in der Hand da und konnte seinen Blick nicht lösen. Auch der Rest der Gäste war ungewöhnlich ruhig geworden. Sie waren fasziniert und verblüfft, als hätten sie eine heilige Reliquie vor sich, die nicht für Menschenaugen bestimmt war.
»Es gehört mir, Gerret.« Die Stimme erschallte aus der Richtung der Theke. Der fremde Wanderer hatte sich vom Stuhl erhoben und dem jungen Mann zugewandt. »Ich vermutete, dass Waffen in diesem Hause unerwünscht seien, deshalb ließ ich es vor der Türe.« Seine Stimme war nach wie vor ruhig und besonnen, sein Blick freundlich. »Danke, dass ihr es mir bringt. Länger getrennt von ihm zu sein, schmerzt mich.« Mit diesen Worten erhob er seine rechte Hand und richtete sie auf den Jungen. Wie von Geisterhand riss sich das Schwert aus Gerrets Umklammerung frei und flog in gerader Linie auf den Wanderer zu. Auf seinem Weg riss es Becher, Teller und Schüsseln von den Tischen und landete zielsicher in der Hand des Fremden, der es fast liebevoll umfasst hielt. Die Gäste in der Flugbahn hatten sich gerade noch rechtzeitig in Deckung begeben und verharrten nun ebenso fragend wie der Rest der Menschen in ihrer Position. Was war gerade geschehen?
Der Blick des Wanderers hatte sich verändert. Er war nicht einfach anders, nein, er war begierig. Seine strahlend blauen Augen tanzten im Licht der Fackeln und fokussierten die Schneide der Klinge. Mit dem Zeigefinger der freien Hand strich er sanft über die Klinge, bis ein kleiner Tropfen Blut hervorquoll und still an dem Metall herablief. Er schloss die Augen bedächtig, wie in ein Gebet versunken und lächelte. Dann öffnete er die Augen. Er wandte sich um und sprach Irsa an, die das Schauspiel ebenso verwirrt betrachtete.
»Vielen Dank für die Bewirtung. Ihr habt natürlich Recht. Niemand sollte Hunger leiden.« Seine Mundwinkel zogen sich freundlich nach oben und im selben Moment schoss hinter ihm mit einem ohrenbetäubenden Scheppern etwas durch das Dach und packte den verdutzten Gerret. Trümmerteile und Regen ergossen sich in Strömen in das Gasthaus. Der hereinströmende Luftzug löschte die meisten der Fackeln, sodass lediglich die grellen Blitze des Gewitters einen Teil der Szenerie durch das Loch hindurch beleuchteten.
In dem fahlen Licht erkannte man nur dunkle graue Haut, durchzogen von Adern, Narben und Beulen. Die Menschen konnten nicht ausmachen, ob sie schuppig war, oder behaart. Es ging alles zu schnell. Die monströse Faust riss den kreischenden Mann von den Füßen und verschwand durch das Loch im Dach. Der Schrei verstummte und zusammen mit dem Regen fielen die blutigen Überreste Gerrets, nicht mehr als ein Arm und zwei Beine, zurück in die Gaststätte auf den nassen Boden. Blut mischte sich mit den Regenmassen und verschwamm auf den Dielen. In diesem Moment erst überwanden die Gäste des Hauses ihre Ohnmacht und stürmten schreiend auf die Tür zu. Doch die schwere Holztür ließ sich nicht öffnen. Die Männer und Frauen hämmerten daran, schubsten sich gegenseitig zur Seite, während eine zweite Hand durch die Hauswand brach und nach ihrem nächsten Opfer suchte. Der Raum versank in panischen Schreien, schmerzhaftem Stöhnen und dem Krachen von Holz, untermalt vom tosenden Donner. Und etwas anderem, dass niemand zuordnen konnte.
Einzig der Wanderer blieb ruhig auf seiner Position, hielt mit einer Hand die Klinge und griff mit der anderen zu seinem halbvollen Becher Bier. Während immer wieder Menschen gepackt und unter Schreien aus dem Gebäude gezogen wurden, erhob er ihn mit ausgestrecktem Arm zum Gruße und wiederholte seine Worte. Leise, bedächtig und fast feierlich.
»Niemand sollte Hunger leiden.«
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