POLITIK
Sirius Tame war kein guter Politiker. Das war ihm bewusst.
Er beherrschte die Kunst der Sprache und der Diplomatie nicht in einem befriedigenden Maße, ganz im Gegensatz zu seinem, bereits verstorbenen, älteren Bruder.
Ihr Vater, der ehrwürdige Graf Lorian von Westerlau, hielt sich zu Lebzeiten seines Sohnes mit seiner Bewunderung nicht zurück.
»Der junge Angus Tame beherrscht das Wort, wie der Falke den Sturzflug«, jauchzte er einmal überschwänglich. Sirius wurde bei dem Gedanken schlecht. Er kannte diese Begeisterung nicht, denn seine Begabungen waren nicht im Sinne seines Vaters. Zu laut, zu schroff, zu stolz, zu unbeherrscht, zu viel…Sirius.
Mit mulmigem Gefühl ließ der adlige Spross seinen Blick über die versammelte Menschenmenge schweifen. Die meisten von ihnen waren verarmte Bittsteller, die kamen, um sich die Gunst des treuherzigen Herrschers von Westerlau zu sichern. Manche von ihnen kannte Sirius noch aus seiner Jugend, und aus Kreisen, die eigentlich nicht in solchen Hallen verkehren sollten. Allesamt schimpften und wetterten sie über das arrogante Geschlecht der Tames, die im Prunk saßen, während draußen Menschen in Dreck und Regen verendeten. Genau genommen sollte Sirius sie nicht kennen, aber sein Wesen trieb ihn schon immer weg vom feinen Zwirn, hin zum Gesindel, zu den Beeinflussbaren und Schwachen. Schwache, die durch die richtigen Anreize stark und wertvoll werden konnten.
Sirius rümpfte die Nase und verengte die Augen zu Schlitzen, als er wieder einen erblickte, der sich vor dem Grafen auf die Steinplatten warf und lautstark bekundete, wie glücklich er sei, hier in diesen Hallen sein zu dürfen.
Allesamt Schmarotzer, murmelte er stumm.
Und sein Vater? Der ehrwürdige Lorian gab sich edelmütig, erhob seinen alternden Körper vom Stuhl und bat den Mann mit freundlicher Miene sich zu erheben. Er beherrschte dieses Spiel perfekt.
»Gott preise euch, edler Graf«, hörte er den Kriecher rufen. Dann verschwand dieser eilig, doch nicht ohne vorher noch einmal deutlich seinen Namen, seine Herkunft und seine dringendsten Belange hervorzubringen. Der Herrscher lächelte gütig und winkte den Nächsten herbei.
»Immer ein Vergnügen, dieses Schauspiel«, vernahm Sirius eine Stimme von der Seite. Helen Brakeston stand neben ihm, eine zierliche Frau mit geradem Rücken und einer undurchschaubaren Mimik. Sie war kaum älter als Sirius, vielleicht Mitte Zwanzig, doch schon seit Jahren fester Bestandteil des Hofstaates des Grafen. Tame war nicht überrascht darüber, dass sie hier war, bei ihm. In letzter Zeit suchte sie des Öfteren das Gespräch oder seine Nähe. Mit Gewissheit konnte er nicht sagen, woran es liegen mochte, doch er ließ es geschehen. Sie war gewieft, geschickt mit dem Wort und hatte weitreichende Verbindungen. Womöglich konnte sie ihm noch nützlich sein, und wenn nicht für die Politik, wer weiß für was sonst. Dreist musterte er sie von oben bis unten, während sie das Gesicht abgewandt hatte, um eben jenes Schauspiel zu begutachten. Im flackernden Licht der Fackeln wirkte ihre Silhouette perfekt, doch ihre Züge hatten etwas Kaltes, Unbarmherziges, das in hartem Kontrast zu ihrem sonst jungen Äußeren stand.
»Kein Vergnügen. Es ist eine Farce«, gab Sirius spottend zurück. Seine Hand legte sich dabei auf den Schwertknauf, als könnte er dadurch etwas von der aufkeimenden Wut ableiten und in den Stahl fließen lassen.
Helen lächelte. »Der Graf wirkt im Alter recht beliebt. Scheint, als verstünde er die Bedarfe des Volkes.«
Seine Faust schraubte sich fester um die eiserne Kugel am Ende der Waffe. Er hörte den Sarkasmus in ihrer Stimme heraus, doch was bezweckte sie? Wollte sie seine Gunst erringen, weil sie wusste, wie er zu seinem Vater stand? Oder war sie auf sein Geheiß hier? Er wägte die Möglichkeiten im Stillen ab, bevor er antwortete.
»Mein Vater hat vergessen, was es bedeutet, zu herrschen«, murmelte er bedächtig, nur so laut, dass sie beide es hören konnten. Ringsherum tobten die Feierlichkeiten weiter. Die fröhliche Trommel- und Blasmusik übertönte ihr Gespräch, Menschen aßen und tranken, sangen und feierten, während der Graf weiter seine Schäfchen empfing.
»Man hört, er sei religiös geworden«, gab Helen zurück. »Zumindest mehr, als es standesgemäß von einem Grafen verlangt werden würde.« Brakestons Tonfall war neutral, doch der Spott war unüberhörbar. Sirius glaubte zu wissen, woran er war. Doch wusste sie das auch?
»Seit dem Tod meines Bruders verfällt er stetig mehr der Melancholie und faselt vom Seelenheil. Von wahrem Glück und davon etwas zurückzugeben. Manchmal möchte ich seine Possen fast glauben.«
»Schwere Schicksalsschläge vermögen den Geist eines Mannes zu ändern. Erst stirbt die Gattin an langer Krankheit, und dann dieser tragische Unfall des ältesten, geliebten, Sohnes.« Helen betonte das Wort „geliebt“ und hielt den Blick weiter auf den Grafen gerichtet. Sirius verkrampfte kurz, ob der dreisten Andeutung. Er beruhigte seine Atmung und lockerte den Griff um sein Schwert wieder. Unter der Insignie von Westerlau, die auf seinem Wappenrock prangte, hob und senkte sich seine Brust wieder regelmäßig.
»Unterstellt Ihr mir eine Beteiligung an dieser Tragödie?« Schnaubte Sirius frei heraus.
Sie lachte unschuldig. »Oh, bewahre! Nicht im Leben denke ich daran. Mir war lediglich danach, als bräuchtet auch ihr Zuwendung, ob eurer Verluste, und nicht nur der Graf, der so gerne beteuert, dass Gott drohe ihn zu verlassen.«
Sirius verengte die Augen zu Schlitzen, dann überkreuzte er die Arme hinter dem Rücken und blickte Helen eindringlich an.
»Gott hat hier keinen Anteil. Krankheiten und Unfälle gehören zum Leben, und nichts weiter spielt eine Rolle. Ich brauche keine Zuwendung, weil ich mich nicht wie ein elendes Tier gebäre, um das Mitleid meiner Untergebenen zu erringen.« Sirius war bewusst, wie scharf sein Ton war, und wie offenkundig er damit seinen Vater diskreditierte. Er verlor die Geduld, ganz wie es von einem schlechten Politiker erwartet wurde. Es war ihm noch aufgefallen, doch gesprochene Worte konnte man nicht zurückholen. Hatte sie ihn aus der Reserve locken wollen? Zu seiner Verwunderung wurde Helens Gesicht von einem Lächeln umspielt.
»Eure Nüchternheit ist erfrischend, mein Herr. Ihr werdet sicher einen guten Grafen stellen, wenn eure Zeit gekommen ist.« Sie verneigte sich betont tief. »Ich wünsche ein frohes Fest.« Dann verschwand sie in der Menge.
Sirius blieb stehen und blickte ihr noch kurz nach. Ein merkwürdiges Gespräch. Seine Aufmerksamkeit ging zurück zur Menge und zum Grafen, der weiterhin arme Seelen empfing, eine bemitleidenswerter als die andere. Er hob den linken Arm, griff zu seinem Keramikbecher, und nahm einen tiefen Schluck Wein. Der Geschmack war vertraut und doch so bitter. Eine perfekte Nachahmung der noch immer laufenden Szene.
Tame blickte zurück zu seinem Vater. Ein junger Mann in dreckiger Lederkleidung hatte sich vor ihm auf die Knie geworfen. Sein Körper warf sich ungeschickt hin und her, als sein Redeschwall von einem Hustenanfall gebrochen wurde. Sein Gesicht grub sich in die eine Hand, während die andere seine Brust hielt. Sirius‘ Augen verschmälerten sich und beobachteten das Geschehen. Der Graf hatte sich schwerfällig erhoben und machte sich daran, sich zu dem Keuchenden herabzubeugen.
Sicher eine weitere Zurschaustellung seiner neuen Frömmigkeit. Keine Berührungsangst vor dem schmutzigen Pöbel. Sirius rümpfte die Nase.
Gerade als der Graf sich auf ein Knie herabließ und seine Arme links und rechts an die Schultern des Jungen gelegt hatte, veränderte sich die Szenerie. Die Hand, die sich soeben noch an der Brust des Jungen in sein Hemd gekrallt hatte, hielt ein kurzes spitzes Messer in der Hand. Im Bruchteil eines Augenblicks begann der Arm auf und ab zu schnellen, während die Klinge wieder und wieder in den Hals des Grafen eindrang. Lärm ertönte im Saal, fanatische grelle Schreie des Angreifers, schmerzhaftes Aufheulen des Grafen und erschrockene Rufe aus dem Publikum um die beiden herum. Sirius zögerte keine Sekunde. Er warf den Becher davon, sprang über die Sitzbankreihen und stieß weg, wer auch immer ihm in den Weg kam. Während dieser kurzen Augenblicke ging der Albtraum um den Herrscher weiter. Die Hand stieß noch immer zu, wenngleich sie ob der Erschöpfung langsamer wurde. Rotes Blut quoll aus den unzähligen Stichwunden, drang durch die Finger Lorians, der verzweifelt versuchte sie zu verschließen und ergoss sich auf dem Boden. Das Gewand des Grafen sog sich voll davon, als hätte es jahrelangen Durst gelitten, bis die Kraft schwand und der Leib des Herrschers zur Seite auf die Steinfliesen fiel. Der Attentäter atmete heftig durch den offenen Mund und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Körper zu seinen Füßen. Mühsam richtete er sich auf, hielt das blutige Messer ausgestreckt am langen Arm und fuchtelte damit zur Abschreckung um sich.
»Bleibt weg von mir!« Schrie er panisch.
Sirius war durch seinen direkten Weg noch vor den Wachleuten angekommen. Unbeirrt zog er sein ziervolles Schwert aus der Scheide und schritt auf den Mörder zu. Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass der Körper seines Vaters erschlafft war. Der hohe Blutverlust musste bereits zum Tod geführt haben. Der Attentäter, selbst von oben bis unten besudelt vom Blut des Herren, erblickte den Spross und seine Augen weiteten sich erneut auf merkwürdige Weise.
»Herr Sirius, bitte…«, stammelte er hektisch, doch weiter kam er nicht. Der junge Tame schlug dem Mörder mit einem weiten Schwung das Messer aus der Hand. Im selben Bogen zog er das Schwert zurück und zerteilte dem Mann mit einem Schnitt die Kehle. Er sank auf die Knie, krallte sich noch kurz mit den Händen um die Wunde, und erschlaffte dann ebenso wie sein Opfer. Als der Körper dort lag, verkrümmt, mit ungläubig aufgerissenen Augen, neben dem blutgetränkten Leib des Grafen, war völlige Stille im Raum eingekehrt. Alles wartete darauf, was nun passieren sollte und niemand wagte es, das Wort zu erheben.
Sirius wartete einen kurzen Moment und überdachte die Situation. Er wischte das Schwert an seinem hochwertigen blauen Mantel ab und steckte es zurück in die Scheide. Den Umhang zog er sich von den Schultern und legte ihn bedächtig über den Leib seines Vaters. Dann erhob er sich, neigte den Kopf und atmete laut hörbar durch.
»Bringt meinen Vater zum Hofarzt und lasst ihn untersuchen«, sprach er laut, wohlwissend, dass es für Hilfe längst zu spät war. »Den feigen Mörder werft ihr zu den Schweinen. Heute Abend, zum ersten Läuten der Glocke, berufe ich eine Versammlung ein, um die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Ich erwarte die Anwesenheit aller hochrangigen Berater.« Nach seinen Worten setzten sich sofort einige der Untergebenen in Bewegung, um Bahren zum Transport der Leichen heranzuschaffen. Die restlichen Gäste verharrten regungslos. Keiner wagte es, seine Entscheidungen zu hinterfragen. Historisch war die Herrschaftsfolge in Westerlau eindeutig geregelt. Sirius war der älteste und einzige lebende Sohn des Grafen, weswegen er, auch ohne amtliche Ernennung, die Befehlsgewalt innehatte.
»Ich ziehe mich zurück. Der Rest verschwindet von hier, wir brauchen Ruhe, um die Situation aufzuarbeiten. Sobald dies geschehen ist, kommt die Zeit für Trauer.« Sirius machte kehrt und bewegte sich auf den Ausgang der steinernen Halle zu. Die Menschen stoben auseinander, um ihm Platz zu machen. Einzig eine Person verharrte am Tor zu den Gängen: Helen Brakeston. Sie bedachte den Sohn des Grafen mit einem mitleidigen Blick und verbeugte sich. Als er sie passierte, wendete sie ebenfalls und schloss sich ihm in seinem schnellen Schritt an.
»Mein Beileid, Herr. Erneut sucht euch eine Tragödie heim«, wisperte sie und versuchte weiter sein Tempo beizubehalten. Er antwortete nicht.
»Was für ein Jammer, dass ihr ihn niederschlagen musstet. Lebend hätte er uns sicher Auskunft über seine Absichten geben können«, setzte sie nach. Sirius stoppte seinen rasanten Gang durch die dunklen steinernen Korridore abrupt und starrte sie an.
»Spart euch euer Geflüster, Brakeston. Dem Pöbel reichen Neid und der daraus entstehende Hass auf unsereins als Absicht. Die einzige Antwort auf den Ungehorsam des Volkes ist das Schwert.« Seine Gesichtszüge verzerrten sich, während er sie mit seinem breiten Körper zurückdrängte. Helen wich zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand ankam und sie zu dem nah herangekommenen Sirius aufsehen musste. Ihre Fassung bewahrte sie.
»Ihr habt natürlich recht, Herr.« Sie verneigte sich, soweit es die Nähe des neuen Grafen zuließ. Als sie sich wieder erhoben hatte, sprach sie weiter. »Bitte teilt mir mit, wenn ich euch zu Diensten sein kann.«
»Heute Abend, zum ersten Läuten. Seid da und erledigt eure Arbeit.« Tame trat einen Schritt zurück und ging weiter. Im Augenwinkel sah er, dass Helen Brakeston stehen blieb und ihm nachsah.
Ja, Sirius Tame war wirklich ein schlechter Politiker. Das wusste er.
Doch er war auf einem guten Weg. Denn er besaß eine Eigenschaft, die ihn perfekt auf seine zukünftigen Aufgaben vorbereitete, und die ihm weiterhin jede Tür öffnen würde: Er war völlig skrupellos.
Die Zeiten der kraftlosen Führung in Westerlau waren mit dem heutigen Tage vorbei.
Ein Lächeln umspielte Sirius‘ Lippen, bevor er seine Kammer öffnete und in die Dunkelheit eintrat.
Danke, dass Du diese Geschichte gelesen hast! <3
Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mir ein Feedback gibst, wie sie Dir gefallen hat!
Du möchtest die Geschichte lieber anhören, als zu lesen? Kein Problem!
Wenn Dir die Kurzgeschichte gefallen hat, vergiss nicht mir ein Like auf YouTube, und gerne auch ein Abo, dazulassen!
Vielen lieben Dank!